40 Jahre : Fehler gebiert Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung

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    17.12.2023 von Stefan Krempl

    Sorge wegen Personenkennzeichen und Zentralregister
    DSGVO nimmt Anleihen
    Unbehagen in der App-Gegenwart
    Überbietungswettbewerb zwischen Judikative und Legislative

    Das vielbeschworene Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung sollte es in dieser breiten Dimension eigentlich gar nicht geben. Dies verriet Gerhard Robbers am Freitag bei einem Symposium zur Feier des 40. Geburtstags des Volkszählungsurteils. Dem Staatsrechtler zufolge ist die Sache mit dem „Grundrecht“ schlicht ein Fehler: Der im Manuskript zunächst stets verwendete Begriff sei vor der Urteilsausfertigung überall auf „Recht“ geändert worden. Nur im Absatz 189 sei das vergessen worden.

    Robbers, der damals als Wissenschaftlicher Mitarbeiter Ernst Benda, dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, zur Seite stand, sprach von einem Korrekturversagen. In der Sache mache der Unterschied zwar „nicht viel aus, aber schon ein bisschen“. Das eigentliche Grundrecht sei die in Artikel 2 des Grundgesetzes verankerte freie Entfaltung der Persönlichkeit, erläuterte Dieter Grimm, der von 1987 bis 1999 Richter im Ersten Senat des Verfassungsgerichts war. Dieses sei „Quelle immer neuer Konkretisierungen, die aufgrund immer neuer Gefahrenlagen eintreten“. Bei der informationellen Selbstbestimmung handele es sich auch um eine solche Fortschreibung. Streng genommen bestehe damit also „kein neues Grundrecht, aber ein neuer Anwendungsbereich für das bestehende“. Für Nicht-Juristen sei das aber „nicht leicht nachvollziehbar“.

    Die für 1983 geplante, letztlich aber erst 1987 in abgespeckter Form durchgeführte Volkszählung habe unglaubliche Erregung in der Bevölkerung hervorgerufen, erinnert sich Grimm an die Umstände des Grundsatzurteils. Dass der Staat Auskünfte etwa über Wohnsituation, Erwerbsleben, Ausbildung und benutzte Verkehrsmittel haben wollte, sei von vielen als Einstieg in den totalitären Überwachungsstaat gewertet worden. Es habe Aufrufe und Anleitungen zum Boykott sowie zahlreiche Verfassungsbeschwerden gegeben, was man „bis ins Urteil hinein spüren“ könne.

    Ursprünglich sollte das Urteil erst 1984 verkündet werden, weiß die Zeitzeugin Gisela Wild, die als Hamburger Anwältin eine der ersten Verfassungsbeschwerden gegen die Volkszählung einreichte. „Aber Benda schied am 31.12.1983 aus“ und habe in seiner Amtszeit als Vorsitzender noch eine Marke setzen wollen. Auf die Beschwerde habe das Gericht offenbar schon gewartet und bereits wenige Tagen später einschlägige Anfragen an andere Gremien gestellt. Dazu gekommen sei eine große Presseberichterstattung. Diese habe zu Hunderten Anfragen für andere Anträge geführt, sodass sie und ihr Team eine Musterverfassungsbeschwerde ausgearbeitet und zur Verfügung gestellt hätten. So sei es zu einer Flut von Eingaben gekommen, die alle gleich aussahen.

    „Was machen wir denn nun“, fragte Benda daraufhin laut Robbers in die Runde. Die ganze Sache habe damit auf der Kippe gestanden. Letztlich habe sich das Gericht aber - auch angesichts der aufgeheizten Stimmung mit Aufruhr und Demonstrationen in den Straßen - dazu entschieden, „dass es in den Senat geht“. Der Beschluss habe durchaus mit das Ziel gehabt, „befriedend zu wirken“. Die Frage „wie kommen wir an in der Öffentlichkeit“ habe sich dagegen nicht gestellt.
    Sorge wegen Personenkennzeichen und Zentralregister

    Ex-Verfassungsrichter Grimm spürte zu seiner Zeit bei der Karlsruher Institution trotzdem, dass das Volkszählungsurteil deren Ansehen enorm gesteigert und „große Begeisterung“ ausgelöst habe. Inhaltlich hätten die Richter die Unterscheidung zwischen harmlosen und sensiblen Daten mit Verweis auf die EDV weggefegt. Denn mit dieser sei es möglich geworden, Informationshäppchen in großer Zahl in ungeheurer Geschwindigkeit zu erheben, zu speichern, zu verarbeiten und in andere Zusammenhänge zu überführen. Daten ließen sich so „zu einem teilweise oder weitgehend vollständigen Persönlichkeitsbild“ zusammenfügen, ohne dass der Betroffene dessen Richtigkeit und Verwendung zureichend kontrollieren kann".

    Als wegweisend für das Urteil bezeichnete Grimm ein 1971 entstandenes Gutachten von Rechtsinformatikern wie Wilhelm Steinmüller und Bernd Lutterbeck für das Bundesinnenministerium: „Es gibt exakte Übernahmen aus der Literatur, aber es wird überhaupt nicht zitiert.“ Der 2013 verstorbene Steinmüller selbst gab schon vor Jahren zu Protokoll, er habe das Schlagwort des informationellen Selbstbestimmungsrechts „an zwei ziemlich versteckten Stellen“ in die Expertise beim Korrekturlesen eingefügt. Getrieben habe ihn die Sorge über die drohende Einführung eines Personenkennzeichens mit dem ursprünglich aus der Nazi-Zeit stammenden „Ziel der Erfassung der Gesamtbevölkerung“ in einem umfassenden Meldezentralregister. Mit der Steuer-ID hat der Bundestag mittlerweile Fakten in diese Richtung geschaffen.

    Steinmüller gehörte zu den Beschwerdeführern von 1983 und konnte seine Bedenken und sein Konzept bei einer Anhörung in Karlsruhe erläutern. Die Autoren des Urteils benannten ihm zufolge die Verfasser der einschlägigen Literatur letztlich nicht, „um die Akzeptanz der Entscheidung im Richterkollegium angesichts der teils als ’links’ bekannten Beschwerdeführer nicht zu gefährden“. Der Urheber freute sich trotzdem, dass das Verfassungsgericht „in einem genialen Schachzug“ die gesamte Datenverarbeitung des Staates wie der Wirtschaft dem informationellen Selbstbestimmungsrecht der Bürger unterstellt habe.
    DSGVO nimmt Anleihen

    Als „Paukenschlag“ wertet Heinrich Amadeus Wolff, der im Frühjahr 2022 in den Ersten Senat als Richter einzog, das Volkszählungsurteil bis heute. Solche „Knaller“ seien aber aus Karlsruhe nicht mehr zu erwarten, da der Europäische Gerichtshof (EuGH) inzwischen stärker das Datenschutzrecht ausgestalte und so für das Bundesverfassungsgericht eher Bereiche wie Privatsphäre im Sicherheitsbereich und möglicherweise auch im Gesundheitswesen übrig blieben. Letztlich habe die Idee der informationellen Selbstbestimmung, die sachlich einem Grundrecht gleichkomme, „ganz Europa erobert“. Auch die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) nehme „erhebliche Anleihen“ daran.

    Auf das Volkszählungsurteil hat das Bundesverfassungsgericht in den vergangenen vier Jahrzehnten über zweihundertmal in anderen Entscheidungen verwiesen, hat der hessische Datenschutzbeauftragte Alexander Roßnagel gezählt. Trotzdem offenbaren sich Wolff zufolge darin auch „strukturelle Schwächen“. So sei das Selbstbestimmungsrecht vor allem an der Bewältigung von Gefahren in sozialen Netzwerken „gescheitert“. Hier werde mittlerweile schon über das „Einfachrecht“ wie die DSGVO ein höherer Schutz geleistet. Deren Artikel 6, der eine klare Rechtsgrundlage wie eine informierte Einwilligung in die Verarbeitung persönlicher Daten verlangt, ist freilich auch vom Volkszählungsurteil inspiriert.
    Unbehagen in der App-Gegenwart

    Das Bundesverfassungsgericht habe etwa in seinen Begründungen zur Einschränkung des großen Lauschangriffs und der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung Bezug auf das informationelle Selbstbestimmungsrecht genommen, nennt Ex-Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) konkrete Beispiele für die Auswirkungen. Ähnlich sei es bei den Urteilen gegen Rasterfahndung, Staatstrojaner oder die Bestandsdatenauskunft. Trotzdem versuchten Innenminister immer wieder, einschlägige Überwachungsbefugnisse einzuführen – zumindest bis zur nächsten Klatsche aus Karlsruhe. Im Volkszählungsurteil gestellte Anforderungen „mag man als bürokratisch erachten“, aber dabei handele es sich um den Grundrechtsschutz.

    Wovor die Bundesbürger 1983 angesichts von sieben umstrittenen Fragen Furcht hatten, sei „ein Klacks der Daten“, die heute bei einer Minute App-Nutzung anfielen, verweist Gero Ziegenhorn von der Kanzlei Redeker, Sellner, Dahs auf ganz neue Risiken für die Privatsphäre im digitalen Zeitalter. Prinzipiell gehe die größere Gefahr längst von privaten Datensammlern wie Google oder Facebook aus, weiß auch Grimm. Der Staat sei mit dem Volkszählungsurteil aber grundsätzlich auch verpflichtet, die Bürger vor der „Missverwendung“ von Informationen durch Unternehmen zu schützen. Entwicklungen wie Big Data habe man 1983 zwar nur „im Nebel in der Ferne gesehen“, so Gisela Wild. Mit der Künstlichen Intelligenz (KI) entstehe nun aber erneut ein hohes „Angstniveau“, sodass sich wieder eine Gegenbewegung entwickle.

    Gerade mit dem Aufblühen von KI wächst indes auch die Zahl der Kritiker am Volkszählungsurteil. Karlsruhe habe damit einen Generalverdacht und ein allgemeines Misstrauen gegen jegliche Datenverarbeitung begründet, ärgert sich der erste Bundesdatenschutzbeauftragte Hans Peter Bull. Dass Gerichte das Recht auf informationelle Selbstbestimmung mittlerweile schon beeinträchtigt sähen, wenn sich Bürger „subjektiv unwohl fühlen“, entspreche dem „woken Zeitgeist“. Datenverarbeitung sei oft einfach nur nützlich. Eine Einwilligung häufig dagegen nicht, wie die Farce der Cookie-Banner zeige. Im Alltag seien Individuen mit dem in die Jahre gekommenen Recht nicht unbedingt freier geworden. Vor allem sei mit einer „übergroßen Verrechtlichung“ des Konzepts dessen Klarheit längst verlorengegangen.
    Überbietungswettbewerb zwischen Judikative und Legislative

    Für Winfried Veil aus dem Bundesinnenministerium ist die Zweckbindung gar die „freiheitfeindlichste Vorkehrung“, da sie „die gesamte Kommunikation zwischen Menschen behindert“. Damit seien „keine Zufallsfunde mehr in der Wissenschaft möglich“, Big Data und KI „tot“. Auch aus Sicht des EU-Abgeordneten Axel Voss braucht Künstliche Intelligenz riesige Mengen persönlicher Daten, sodass die DSGVO novelliert werden müsse.

    In der Grundverordnung werde tatsächlich „sehr viel im Detail geregelt“, gesteht der Ex-Bundesdatenschützer Peter Schaar zu. Auch er würde sich in diesem Sektor „schlankere Gesetze“ wünschen. Gemeinsam mit der Vorsitzenden der Datenschutzkonferenz von Bund und Ländern, Marit Hansen, verweist er aber auf technischen Lösungen wie Differential Privacy, um den Personenbezug aufzulösen und so neue Ansätze für die Datenauswertung zu schaffen.