Ideologie und Urlaubsreisen in der DDR: Welche Rolle spielten die FDGB-Gewerkschaften?
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11.6.2023 von Fritz Werner Winkler - Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) und die unter seinem Dach vereinten 16 Einzelgewerkschaften waren die mit Abstand größte und vermögendste Massenorganisation der DDR. Im Wendejahr 1989 zählte er noch 8,9 Millionen Mitglieder. Sein Vermögen wurde auf dem Sonderkongress im Januar 1990 mit 4,2 Milliarden Mark (DDR) beziffert. Seine weit mehr als 1000 Liegenschaften entsprachen etwa der Fläche des Stadtbezirks Berlin-Mitte. Der Organisationsgrad betrug 97,7 Prozent.
Der FDGB wurde bereits am 18. März 1945 in Aachen gegründet. Die westlichen Alliierten erlaubten zunächst nur Einzelgewerkschaften. Anders war es in der sowjetischen Besatzungszone: Dort erfolgte am 10. Juni 1945 auf der Grundlage des Befehls Nr. 2 der sowjetischen Militäradministration seine Zulassung. Entsprechend Lenins Theorie über Gewerkschaften wurde er zentralistisch organisiert und zum Transmissionsriemen der SED entwickelt. Seine langjährigen Vorsitzenden Herbert Warnke (1948–1975) und Harry Tisch (1975–1989) waren gleichzeitig auch Mitglieder des Politbüros der SED. Diese konsequente Einbindung in deren Führungsstrukturen setzte sich über die Bezirke bis hin in die Parteileitungen der Betriebe und Einrichtungen fort.
Mit den Maßstäben des westlichen Demokratieverständnisses beurteilt, waren die DDR-Gewerkschaften unfrei und undemokratisch. Der FDGB war eine zentralistische Dachorganisation, weit entfernt von einem Bund freier und selbstständiger Einzelgewerkschaften. Nach mehr als drei Jahrzehnten ist allerdings eine differenziertere Betrachtung der Arbeit und der Verantwortung des FDGB im politischen System der DDR notwendig.
Keine andere Organisation war so eng mit dem Leben der Menschen im Osten und mit deren positiven Erinnerungen verbunden. Eine Reduzierung der gewerkschaftlichen Arbeit auf die ideologischen Schwerpunkte „Sozialistischer Wettbewerb“ und „Schulen der sozialistischen Arbeit“ verkürzen den Blick. Die historische Analyse nur anhand der archivierten Berichte der unterschiedlichen gewerkschaftlichen Ebenen vorzunehmen, geht an der Realität vorbei.
Ein differenziertes und bunteres Bild zeigt zum Beispiel ein Blick in die oft liebevoll gestalteten Brigade-Tagebücher. In der Regel war ein Arbeitskollektiv identisch mit einer Gewerkschaftsgruppe. Rund 2,5 Millionen Mitglieder waren ehrenamtlich für „ihre“ Gewerkschaft tätig. Sie wurden direkt gewählt und waren mehrheitlich keine SED-Mitglieder. Seit 1951 befand sich die Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten in der Trägerschaft des FDGB. Damit waren die Gewerkschaften für die Geld- und Sachleistungen von mehr als 85 Prozent der DDR-Bürger von der Wiege bis zur Bahre verantwortlich. Die dafür aus dem Staatsaushalt bereitgestellten Mittel lagen am Ende bei etwa 30 Milliarden Mark.
Jährlich wurden über die gewerkschaftlichen Kurkommissionen circa 330.000 Kuren im In- und Ausland vergeben. Eine Mitgliedschaft im FDGB war dafür keine Voraussetzung. Im Jahr 1989 verfügte der FDGB über 694 gewerkschaftseigene und 371 vertraglich genutzte Ferienobjekte. Hinzu kamen 7250 betriebliche Ferieneinrichtungen, die vom Campingwagen bis zum Ferienhotel reichten. Das entsprach einer jährlichen Gesamtkapazität von 5,1 Millionen Ferienreisen. Deren Vergabe erfolgte über die gewerkschaftlichen Ferienkommissionen der Betriebe. Für diese Reisen mussten lediglich 25 bis 35 Prozent der tatsächlichen Kosten für Unterbringung und Verpflegung aufgebracht werden. Für Kinder bis zum Abschluss der zehnten Klasse kostete ein 13-tägiger Aufenthalt einheitlich 30 Mark. Wer die Deutsche Reichsbahn zur Reise zum Urlaubsort und zurück nutzte, der bekam einmal jährlich eine Fahrpreisermäßigung von 33 Prozent.
In der Mediathek des MDR steht noch bis zum 29. Mai 2024 die Doku „Urlaubsträume in Beton – DDR“ zur Verfügung. Sie zeigt die Einmaligkeit des FDGB-Feriendienstes, aber auch seine systembedingten Grenzen auf. Ähnliches lässt sich über die Arbeit der 356 gewerkschaftlichen Kulturhäuser oder die Auftragsvergabe an Künstler aller Genres ausführen. Die Auftragskunst der DDR, die heute einen unermesslichen Sammlerwert hat, wurde fast ausschließlich vom FDGB finanziert. Selbst der Karat-Hit „Über sieben Brücken“ und der gleichnamige TV-Film haben ihren Ursprung in der Vergabe einer Reportage über den Bau des Kraftwerkes Thierbach an den jungen Leipziger Schriftsteller Helmut Richter, der später das Drehbuch und den Text des Titelsongs schrieb.
Viele Fußballfans aus dem Osten werden sich noch an den jährlich ausgespielten FDGB-Pokal erinnern. Er war das Pendant zum DFB-Pokal in der BRD. Über diesen Weg schafften der 1. FC Magdeburg und der 1. FC Lok Leipzig den Einzug in das Europapokalfinale. Die Magdeburger siegten 1974 in Rotterdam gegen den AC Mailand mit 2:0. Die Leipziger Lok-Elf unterlag 1987 in Athen Ajax Amsterdam mit 1:0. Der gesamte Breitensport war vor allem über die Betriebsportgemeinschaften sehr stark an die Gewerkschaften und deren finanzielle Unterstützung gebunden.
Auflösung noch vor dem Ende der DDR
Noch vor dem offiziellen Ende der DDR löste sich der FDGB zum 30. September 1990 auf. Binnen nicht einmal zwölf Monaten hatte sich eine Dynamik entwickelt, die eng mit dem Niedergang der DDR und deren Staatspartei, der SED, verbunden war. Innergewerkschaftlich hatten der für DDR-Verhältnisse luxuriöse Lebensstil des Vorsitzenden Harry Tisch und der damit im Zusammenhang stehende Korruptionsskandal um ihn und weitere Spitzenfunktionäre sowie die Millionenspenden an die FDJ für deren Pfingsttreffen im 40. Jahr der DDR ihr Übriges getan. Eine eindeutige Veruntreuung von Mitgliedsbeiträgen, die nicht zu rechtfertigen war.
All das hat maßgeblich zum Verschwinden des einst so großen und reichen FDGB von der gesellschaftlichen Bühne geführt. Die Mitglieder hatten das letzte noch übrig gebliebene Vertrauen verloren und stimmten mit den Füßen ab. Und das in einer Zeit, wo alles, was man als soziale Sicherheiten bezeichnete, durch das Überstülpen des westdeutschen Wirtschafts- und Rechtssystems aus den Fundamenten gerissen wurde. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf: Hätte es das West-Ost-Gefälle bei Löhnen, Gehältern und Renten auch gegeben, wenn der Osten der Republik im Vereinigungsprozess schlagkräftiger gewerkschaftlich organisiert gewesen wäre?
Dem stand jedoch die politische Einordnung und Bewertung des FDGB durch die DGB-Führung, die westdeutsche Öffentlichkeit und die DDR-Oppositionsgruppen entgegen. Dessen ehemaliger Vorsitzender Ernst Breit machte nach Erinnerungen von Zeitzeugen bereits Anfang 1990 erstmals deutlich, dass für ihn der FDGB von einer „menschenverachtenden Tätigkeit“ geprägt sei. Wenige Monate davor, am 15. September 1989, hatten in Stuttgart noch Breit und Tisch eine Neun-Punkte-Vereinbarung zwischen DGB und FDGB besiegelt. Am 27. April 1990 verkündete Ernst Breit auf einem Arbeitnehmerempfang des NRW-Ministerpräsidenten Johannes Rau unwiderruflich: „Keine Vereinigung mit dem FDGB“. Das enttäuschte die vielen ostdeutschen Gewerkschafter, die ehrlichen Herzens ihre Organisation grundlegend reformieren und selbstbewusst unter das Dach des DGB führen wollten.
Dass es politisch gewollt auch anders ging, zeigen die Vereinigung der Ost-CDU mit ihrer Westschwester oder die Übernahme der LDPD und der NDPD durch die FDP. Im ersten Jahr der Wiedervereinigung waren noch knapp vier Millionen der ostdeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Gewerkschaftsmitglieder. Dadurch stieg die Anzahl der in den DGB-Gewerkschaften organisierten Beschäftigten auf 11,8 Millionen Mitglieder und einen Organisationsgrad von rund 30 Prozent an. Beide Zahlen haben sich bis heute mehr als halbiert, der DGB zählt noch 5,6 Millionen Mitglieder.
Die Deutungshoheit zum Umgang mit dem Geld- und Immobilienvermögen des FDGB, einschließlich seines Feriendienstes, hatte die von westdeutschem Personal dominierte Unabhängige Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR (UKPV). Diese wurde am 1. Juni 1990 auf der Grundlage eines Gesetzes der DDR-Volkskammer durch Ministerpräsident Lothar de Maizière eingesetzt und anschließend in den Einigungsvertrag übernommen. Einen detaillierten Einblick gibt der UKPV-Bericht vom 24. August 1998 an den Deutschen Bundestag (Drucksache 13/11353). In Band 3 befassen sich rund 180 Seiten mit dem FDGB. Ausschlaggebend für die Gesamtbewertung des Vermögens war der von der UKPV erbrachte Nachweis, dass dieses nicht nur aus Mitgliedsbeiträgen gebildet worden war.
Im Zeitraum 1980 bis 1989 flossen jährlich zwischen 207 und 384 Millionen Mark der DDR aus dem Staatshaushalt dem FDGB zu. Diese Zuwendungen waren zweckgebunden für Feriendienst, Arbeitsschutz, Sterbe- und Unfallsterbegeld sowie für das Bildungszentrum der Sozialversicherung und den Berliner Künstlerklub Die Möwe. Dem standen Einnahmen aus Mitgliedsbeiträgen von jährlich zwischen 759 Millionen und 974 Millionen DDR-Mark gegenüber. Mit dieser Größe von durchschnittlich 35 Prozent an Staatseinahmen wurde die materielle Abhängigkeit des FDGB vom politischen System begründet. Aus der Sicht des DGB war dies „politisch belastetes Vermögen“ – ein Erbe, das er nicht antreten wollte.
Später schloss der DGB jedoch einen Vergleich über 36 zum Teil zu seinem Alteigentum gehörende und von den Nazis 1933 enteignete Gewerkschaftshäuser. Trotz dieser Historie musste er für diesen „Handel“ noch 64 Millionen DM zahlen. Der Gebäudekomplex Märkisches Ufer/Brückenstraße, letzter Sitz des FDGB-Bundesvorstandes, wurde 1998 für 27,5 Millionen DM an die Volksrepublik China verkauft, die ihn als Botschaftsgebäude nutzt. Der DGB-Bundesvorstand bezog im Mai 2023 in der Berliner Keithstraße einen neu errichteten Bürokomplex, dessen Kosten ursprünglich mit circa 80 Millionen Euro kalkuliert waren.
Was von dem ehemals gewaltigen Vermögen des FDGB nach Abzug der Kosten für Sozialplanleistungen, Vergleiche, Verwaltungsarbeit (das Sekretariat der UKPV hatte bis zu 85 Mitarbeiter), Gerichtsverfahren usw. übrig blieb, wurde von der Treuhandnachfolgerin, der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BVS), in ein dem Finanzministerium zugeordnetes Sondervermögen überführt. Als ein Schwerpunkt seiner Verwendung wurde der Denkmalsschutz in den neuen Bundesländern bestimmt. Letztendlich tragen damit die Mitgliedsbeiträge der DDR-Gewerkschafter in nicht wenigen Fällen auch zur Sanierung kirchlicher Objekte bei. Ein konstruierter rechtsstaatlicher Weg zum Umgang mit den „ideologisch belasteten Werten des FDGB“ machte das möglich.
Die mehr als 4600 Kunstgegenstände landeten in den Depots und waren bisher der Öffentlichkeit weitgehend unzugänglich (vgl. Dirk Oschmann „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ S. 164/165). Eine 1990 angestrebte Übereignung des Kur- und Erholungsheimes Graal-Müritz an das UN-Kinderhilfswerk (Unicef) lehnte die UKPV ab. Sie favorisierte den Verkauf des Objekts für 6,0 Millionen DM an eine spanische Hotelkette, die dort seitdem eine Vier-Sterne-Hotel mit SPA-Bereich betreibt. Die Spanier kauften auch die ehemaligen FDGB-Feriendomizile in Binz auf Rügen und Schöneck im Voigtland.
Fritz Werner Winkler, geboren 1949, seit 1966 Gewerkschaftsmitglied, war Absolvent der Gewerkschaftshochschule Fritz Heckert, Diplomgesellschaftswissenschaftler, Sekretär des FDGB-Bezirksvorstandes Leipzig und von 1980 bis 1990 Mitglied des Runden Tisches des Bezirks Leipzig.
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